Luft und Lehre.

Pädagogik Forscher untersuchen, was Schulunterricht im Freien bewirkt. Klar ist: Die Kinder sind motivierter und lernen manches besser als im Klassenzimmer. Bringt die Pandemie nun den Outdoortrend an Schulen voran?

In den Stuhlreihen vor der Konzertmuschel im Kasseler Bergpark sitzen an einem Freitag Ende April 20 kleine Werbetexter mit Mützen und Masken. Sie ersinnen Slogans für einen Kletterbaum, für den Schlossteich und für ein Gestrüpp, das sie »Buschido« getauft haben: Die Kinder aus der Robbengruppe der Reformschule Kassel nehmen gerade das Thema Werbung durch.

Nora, 8, und Carla, 7, finden diese Art von Schule super. »Wir überlegen uns Sprüche für die ganze Natur hier«, sagt Nora. Später werden die Kinder Filme über ihre Lieblingsplätze im weitläufigen Park am Schloss Wilhelmshöhe drehen.

»Raus mit euch« hat Klassenlehrer Rainer Naefe das Parkprojekt genannt. Bis zu den Sommerferien will er seine Robben draußen unterrichten – bei Regen in der Konzertmuschel oder notfalls auch mal im Saal eines Restaurants im Park. »Den Klassenraum werden wir nicht mehr betreten«, sagt der Pädagoge.

Lehrer Naefe wollte seine Klasse nicht mehr teilen müssen. Als zu Beginn der Pandemie die Schulen geschlossen waren, hätten er und seine Kolleginnen und Kollegen sich schnell ins Digitale eingearbeitet, sagt er: »Das hat gut geklappt und uns ganz neue Möglichkeiten eröffnet.« Aber der Wechselunterricht, der dann folgte, sei »nichts Halbes und nichts Ganzes.«

Naefe hat umgesetzt, was manche Wissenschaftler und Politiker seit Pandemiebeginn fordern, denn Unterricht in schlecht belüfteten Innenräumen ist ein Risiko. Vor Kurzem schlugen Vertreter der meisten Parteien vor, den Unterricht in der wärmeren Jahreszeit zum Teil ins Freie auszulagern. Die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) etwa sprach von einer »Alternative zum Unterricht im Klassensaal«.

Seit Anfang dieser Woche lernen Naefes Schülerinnen und Schüler trotzdem wieder drinnen, jedes Kind allein zu Hause. Die Bundesnotbremse kennt keine Sonderfälle, sodass die hohe Inzidenz in Kassel auch die Draußenklasse in den Distanzunterricht zwingt. »Das ist ernüchternd«, sagt Naefe, »aber wir hoffen, dass wir bald weitermachen können.«

Christoph Mall von der Technischen Universität München erforscht den Lernort Natur – und Pädagogen wie Grundschullehrer Naefe sind genau das, was er sich für viele weitere Schulen wünscht.

An Lehranstalten in Heidelberg und Ulm untersucht der Sportwissenschaftler, was regelmäßige Draußentage bewirken. Klar ist: Die Kinder aus den Outdoorklassen kommen deutlich öfter in Bewegung als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die drinnen büffeln. Die Lernmotivation ist ebenfalls höher als im herkömmlichen Unterricht, sie sinkt auch nicht während des Schuljahrs, wie es sonst meist der Fall ist. Die Fünftklässler, das haben Analysen von Speichelproben ergeben, haben im Laufe der Draußentage zudem eine gleichmäßigere Abnahme des Stresshormons Cortisol.

Gegenwärtig erstellt Mall ein Verzeichnis der Schulen, die in Deutschland regelmäßig in Wäldern, Grünanlagen und der näheren Schulumgebung unterrichten – damit auch andere von ihren Erfahrungen lernen können. »Das Bewusstsein dafür, dass es andere Lernorte gibt als den Klassenraum, wird größer«, beobachtet Forscher Mall. Doch ob die Möglichkeiten genutzt werden, hängt immer ab vom Engagement einzelner Lehrerinnen und Lehrer.

So hat es mit dem Draußenlernen auch 2013 am Gymnasium »Englisches Institut« begonnen, einer Privatschule in der Heidelberger Südstadt. Pädagogin Uta Gade fand es zunehmend merkwürdig, dass ich als Biologielehrerin Pflanzen und Regenwürmer ins Klassenzimmer schleppte, statt die Kinder raus in die Natur zu bringen«. Ihr Kollege Jakob von Au hatte ein Studienjahr in Neuseeland verbracht. »Dort ist Outdoorpädagogik Teil der Sportlehrerausbildung«, sagt er, »und sie ist Alltag an den meisten Schulen.«

Gade und von Au setzten die Waldtage an ihrem Gymnasium durch, anfangs gegen viele Bedenken. Inzwischen haben sich sechs weitere Kolleginnen und Kollgen dem Konzept verschrieben. Einmal in der Woche steien sie in Zweierteams mit ihrer Klasse in einen Bus und fahren ins Mühltal nördlich des Neckars. Dort nutzen die Gruppen ein Forsthaus als Basis und schwärmen aus in die Wälder und Täler der Umgebung.

Vergangenen Dienstag etwa ging es bei Biolehrer von Au um das Thema Flug. »Wir haben Vogelfedern gesucht, Experimente gemacht und darüber gesprochen, warum die meisten Vögel fliegen können«, berichtet der Lehrer. Am Englischen Institut stehen am Draußentag Biologie, Geografie und Sport auf dem Programm. Die Heidelberger Privatschule ist eine von zwei Lehranstalten, an denen Mall und seine Mitarbeiter die Effekte des Freiluftlernens erforschen.

Die andere, das Anna-Essinger-Gymnasium in Ulm, bietet ihren fünften Klassen an den Draußentagen sogar vier Fächer: neben Bio und Erdkunde auch Mathe und Deutsch.

Die sozialen Effekte der Draußentage sind für Lehrer von Au dabei ebenso wichtig wie klassische Erfolge: »Ich erlebe die Kinder in der Natur ganz anders als im Klassenraum«, sagte er, »die herausfordernden Schüler sind oft besonders hilfsbereit, oder es bilden sich neue Gruppen, weil es keine Sitzordnung gibt. »Seine Kollegin Gade war vor allem überrascht von der »Freude der Kinder am Entdecken«.

Trotz aller Euphorie erwarten die Freiluftexperten nicht, dass bald Tausende Lehrkräfte ausschwärmen, um mit ihren Klassen und Kursen in der Frühlingssonne Unterrichtsausfälle auszugleichen.

»Jede Umgebung bietet Möglichkeiten für kleine Forschungsreisen.«

Schlimmstenfalls könnte konzeptloses Rausstürmen der Outdoorbewegung sogar schaden. »Es sollte nicht der Eindruck entstehen, dass es reicht, die Stühle auf den Schulhof zu stellen«, sagt Wissenschaftler Mall. Draußenlernen brauche anfangs mehr Planung als herkömmlicher Unterricht, für den ja didaktische Materialien existieren.

Zudem haben die meisten Fächer Anteile, die sich kaum im Freien lehren lassen. »Der geschlossene Raum hat natürlich auch seine Vorteile«, sagt der Hamburger Outdoorpädagoge Martin Lindner, »im Klassenzimmer gibt es viel weniger Ablenkung, da fällt die Konzentration auf das behandelte Thema erst einmal leichter als im Wald«.

An der Universität Marburg hat der Sportwissenschaftler den Studiengang »Abenteuer- und Erlebnispädagogik« mit aufgebaut, inzwischen ist er Berater für Bildungsprozesse in der Natur.

Die Natur bietet einen anregenden Raum des Lernens, weiß Linder – aber nur, wenn sich die Beteiligten darauf einlassen. Wer in Mathe Grundrechenarten üben wolle, dem bringe es nichts, im Wald aus Ästen Zahlen zu legen. Aber in Geometrie etwa könne man Kinder nach Dreiecken suchen lassen. »Da ist es dann ein interessante Entdeckung, dass man zunächst keine wahrnimmt«, erklärt Lindner, »aber wenn man genau hinschaut, findet dich die Welt der Geometrie auch im Wald wieder.«

Statt also den Unterricht aus dem Klassenzimmer nach draußen zu exportieren, sollten Lehrerinnen und Lehrer mit den Reizen arbeiten, die die Natur bietet. »Wer rausgeht, muss sich unerwarteten Hindernissen auseinandersetzen«, sagt Lindner, »die bekannte Schulroutine ist erst mal weg.« Sich auf neues einzulassen sei aber gerade das Wesen jedes Bildungsprozess.

Taugt also der Freiluftunterricht als Alternative zum Homeschooling und Wechselunterricht? Zumindest nicht im großen Stil, denn meist sind es einzelne Klassen oder Jahrgänge, die in den Genuss des Draußenlernen kommen, selten zieht die ganze Schule los zum Pauken im Wald oder in Wiesen in erreichbarer Nähe.

Forscher Mall hofft dennoch, dass das Interesse am Draußenlernen wächst. Das Ziel müsse auch nicht immer der Wald sein: »Jede Umgebung bietet Möglichkeiten für kleine Forschungsreisen«, sagt er.

Pädagoge von Au hat Schulen in Kopenhagen und Edinburgh besucht – und erlebt, dass Outdoorlernen auch in der Großstadt möglich ist. »Dann findet man eben eine Wiese am Rand vom Sportplatz oder Vegetation in den Ritzen im Straßenpflaster«, sagt er. Wenn Kinder und Pädagogen das Draußenlernen erst einmal ausprobiert hätten, glaubt von Au, »werden viele merken, dass es ohne allzu viel Aufwand eine große Bereicherung sein kann«.

Die Wissenschaft zumindest gibt den Draußenpionieren recht. Dass Lernen im Freien Lust und Leistungen befördern kann, hat die dänische »Tenchout«-Studie ergeben. Bei den Nachbarn im Norden ist die »Udeskole« etablierter als in Deutschland, an jeder fünften allgemeinbildenden Schule findet einmal in der Woche ein Teil des Unterrichts draußen statt.

In Dänemark können Dritt- bis Sechstklässler, die regelmäßig draußen lernen, im Schnitt besser lesen als eine Vergleichsgruppe. In Mathe schneiden sie zumindest nicht schlechter ab als drinnen lernende Gleichaltrige. Und wie die Kinder aus Malls Studien sind sie motivierter beim Lernen, körperlich aktiver – und im Vergleich zu im Klassenraum unterrichteten Kindern insgesamt glücklicher.

Julia Koch

Artikel aus »Der Spiegel«, Nr. 18 vom 30. April 2021, S. 98 bis 99

Schülerinnen Nora, Carla beim Videodreh
»Freude am Entdecken«