Abschiedsrede von Frau Hilliger .
Liebe Gäste aus nah und fern,
einige von Euch erinnern sich bestimmt an eine Aussage aus den Achtzigern, zuerst veröffentlicht in der Züricher Weltwoche am 02.06.1988 zugeschrieben Herrn Prof. Dr. Müller- Limmroth:
Der „Schulleiter“ hat die Aufgabe, eine Wandergruppe mit Spitzensportlern und Gehbehinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher Richtung zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und möglichst gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten ankommen.
Liebe Gäste, ich spüre deutlich die Erleichterung, dass das nunmehr nicht mehr meine Aufgabe sein wird!
Am Tag meiner Verabschiedung möchte ich mich zuallererst bei denen, die meine Verabschiedung bereitet haben, allen Schülerinnen und Schülern, bei allen Eltern, allen in unserer Schule, bei Marlen Alic im Sekretariat, beim Hausmeister und allen möglichen Akteuren im Hintergrund herzlich bedanken. Ganz besonders bedanke ich mich bei meinen Kolleg*innen im Schulleitungsteam, die in der Organisation und in der Koordination auf diesen Tag hin viel zusätzliche Arbeit geleistet haben, um mir einen schönen Abschied zu bereiten. Ich danke für die Musik vom Orchester, das Lied vom Lehrerchor und für das kleine schwedische Lied vom Kinderchor.
Schon jetzt weiß ich, mehr als alles andere werde ich die Menschen vermissen, die mit mir an der Gestaltung der Arbeit für und in dieser Schule gewirkt haben. Ich danke allen herzlich für eine produktive gemeinsame Zeit an diesem besonderen Ort pädagogischer Zusammenarbeit.
Dennoch feiern wir jetzt Abschied, Wehmut inbegriffen, denn „Zukunft stellt sich ein, wo immer Abschied genommen wird“ (Elazar Benyoetz).
43 Dienstjahre haben sich angesammelt, eine unvorstellbar lange Zeit.
Ich freue mich über alle, die heute zu meiner Verabschiedung gekommen sind- trotz Schuljahresendspurt und Urlaubsvorbereitungen. Wegbegleiter aus vielen unterschiedlichen Zusammenhängen haben sich heute auf den Weg in die Reformschule Kassel gemacht. Wie schön, dass Ihr Alle da seid.
Die weiteste Reise haben Mitglieder meiner Familie auf sich genommen, die heute aus Berlin, Minden und München nach Kassel gekommen sind, um mit mir am Abschied aus meinem Berufsleben teilzunehmen. Ich freue mich, dass zwei meiner Geschwister mit ihren Partnern und meine Tochter Anne mit Ihrer Familie hier sein können. Ines und Kai aus Fulda sind auch da. Es tut mir gut zu wissen, dass Ihr Alle da seid!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Reformschule: Mit Euch habe ich in den letzten 10 Jahren mehr gemeinsame Zeit verbracht als mit meiner Familie. Wo ist die Zeit geblieben?
Gerade denke ich daran, dass es in den ersten Jahren nicht einfach war, das Vertrauen eines Kollegiums zu erringen als eine, die aus der Schulaufsicht zurück in die Schule kommen wollte. Und dann in eine so besondere Schule, von der einige Kolleginnen und Kollegen vor Ort meinten, man nur Ahnung haben könne, wenn man auch bei der Gründung der Reformschule dabei gewesen sei. Nur dann könne man mitreden und über zukünftige Entwicklungen mitentscheiden. Zumindest müsse man langjährige Erfahrungen als Lehrkraft vor Ort mitbringen. Das alles konnte ich nicht anbieten, jedoch hatte ich mich ganz bewusst dafür entschieden, zurück in die Schule zu gehen, auch in diese ganz besondere Schule, die ich als Schulaufsichtsbeamtin zuvor kennenlernen durfte. Gereizt hat mich der größere Spielraum für pädagogische Ideen und Alltagsentscheidungen in einer hessischen Versuchsschule. Ausgestattet mit dem Vertrauen der Kultusbehörde habe ich mich in den Alltag geworfen, habe Stundenpläne mitgestaltet, Kolleginnen und Kollegen für die Schule angeworben, eingestellt, befördert, die Schule nach außen vertreten, für die Schule verhandelt – zu Anfang nicht immer mit der Zustimmung des gesamten Kollegiums- mit den Eltern, Kolleginnen und Kollegen Veranstaltungen und Feste organisiert, Umbauten organisiert (oft mit großer Unterstützung des Schulelternbeirats), Beratungsgespräche geführt, bin zu Tagungen und Arbeitsgruppensitzungen im Kultusministerium und der Lehrkräfteakademie gefahren, habe Artikel über die Schule geschrieben, in langen Abenden bei interessanten Redaktionssitzungen mehrere Ausgaben der neuen „schulstraße zwei“ mitherausgebracht (Dankeschön Inge Sbresny und Johannes Kühn für Eure Initiative), eine Broschüre zur Inklusion mit Kollegen erarbeitet, die Kooperation mit der August Fricke Schule auf den Weg gebracht, die Mitarbeit im Netzwerk der Club of Rome Schulen angeregt, schließlich einen Film über das andere Lernen an der Reformschule initiiert und das Kollegium für die Umsetzung und Mitwirkung gewonnen sowie zuletzt mit dem Impuls für die Weiterarbeit am Gesellschaftslehre- Curriculum mit Unterstützung von Prof. Dr. Klaus Mögling dem Kultusministerium ein Angebot gemacht. So kann endlich auch für dieses Fach ein Curriculum entstehen und für mich schließt sich ein Kreis. Das neue Fach Gesellschaftslehre habe ich als junge Frau 1972 an der gerade gegründeten Gesamthochschule Kassel als Studienfach ausgewählt, weil es meinen politischen Interessen entgegenkam.
Die Schule, das Kollegium und ich selbst haben sich in den letzten zehn Jahren meines Berufslebens verändert. 32 Kolleginnen und Kollegen habe ich neu für die Arbeit an dieser Schule gewonnen. Geblieben ist mir, dass ich trotz anfänglicher Schwierigkeiten meine Entscheidung für diese Schule zu arbeiten nicht einen einzigen Tag bereut habe! Gelernt habe ich, dass es eine problemlose menschliche Vollkommenheit auch in einer Schule nicht gibt, die gute Atmosphäre und gute Beziehungen zueinander als ihre wichtigste Grundhaltung begreift. Mit viel Offenheit und Lebendigkeit gilt es stetig um ein gutes Miteinander zu ringen. Beziehungen zueinander pflegen heißt nicht immer im Einverständnis miteinander zu sein. Es heißt aber im Respekt und in der Anerkennung von Verletzlichkeit im Miteinander zu bleiben. Beziehungen kommen unter denen eher zustande, die ihre Verletzlichkeit zeigen können und sich nicht in emotionalen Panzern einrüsten. Das gilt in alle Richtungen.
Dankbar bin ich für die große Chance, dass ich an dieser Schule arbeiten durfte. Gleichwohl glaube ich, dass die letzten zehn Jahre eine Interimszeit für die Schule waren. Im Sinne der Bedeutung des Wortes Interim eine Zwischenzeit, in der die Schule aus ihrem Elfenbeinturm herausgekommen ist und heute auch eine Stimme im Land hat mit den vielen anderen Schulen, die ein besonderes Interesse für eine ganzheitliche Pädagogik zeigen. Als ein Geschenk zum Schluss meines Berufslebens betrachte ich die Tatsache, dass es Schulen in Hessen erlaubt sein wird als Selbstständige pädagogische Schulen auf Noten zu verzichten bis zum Ende des Jahrgangs 8 bei entsprechender Vorlage eines Konzeptes. Das hätte ich nicht für möglich gehalten, dass ich das in meinem aktiven Berufsleben noch wahr werden könnte. Und kann das ein Impuls sein für eine Entwicklungsperspektive hin zu mehr pädagogischer Eigenständigkeit und mehr Vertrauen in pädagogische Entwicklungen, die dann auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungsperspektiven für die Zukunft ermöglichen?
Bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag ist mir ein Papier in die Hände gefallen, dass ich bei meiner Bewerbung für die Stelle einer Schulaufsichtsbeamtin in Hessen erarbeitet hatte und für ein Kurzreferat im Bewerbungsverfahren vorlegen musste. Darin habe ich im Jahr 2001 Entwicklungsperspektiven für die Schule von morgen aufgezeigt. Ich möchte diese hier und heute knapp zusammengefasst wiederholen, weil ich die Reformschule in diesen Entwicklungsperspektiven einerseits erkenne und andererseits sehe, dass für alle, die hier in Zukunft neu und weiterarbeiten werden, ein Entwicklungsauftrag liegen kann.
Was produziert die Schule eigentlich?
Wer ist Auftraggeber, wer produziert für wen, wer zahlt? Das sind Fragen aus der Wirtschaft. Treffen diese auch für die Schule zu? Tatsächlich arbeiten Lehrerinnen und Lehrer nach wie vor in einem Feld widersprüchlicher Anforderungen, Interessen und Qualitätserwartungen.
Wie soll die Schule von morgen aussehen?
In der Schule werden die Grundlagen des Wissens gelegt, Ansätze für Schlüsselqualifikationen (heute sagen wir fachliche und überfachliche Kompetenzen) müssen erreicht werden einschließlich der Werte und Normvorstellungen, die unserer demokratischen Grundordnung entsprechen (die heute mehr gefährdet ist als noch 2001) und die Verantwortungsübernahme beinhalten. Unterricht wird einen hohen Differenzierungsgrad besitzen und die Feststellung von Leistung wird ebenso differenziert sein. Die Zertifizierung von Schulleistungen muss in neuen Formen geschehen, damit sie für die Schülerinnen und Schüler, für die Eltern und die Gesellschaft einen Aussagewert haben.
Was bedeutet das für Lehrerinnen und Lehrer?
Sie werden in der Schule als Persönlichkeiten Vorbildfunktion übernehmen und neben der Profession des Unterrichtens eine Rolle in der Lebensgestaltung der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen übernehmen. Sie müssen die Anforderungen, die auf Kinder und Jugendliche zukommen antizipieren. Darum muss die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte ein wichtiges Thema sein, denn neben ihrem fachlichen Wissen brauchen diese auch Kommunikations-, Team- und Konfliktfähigkeit, Rollenbewusstsein, Methoden- und Medienkompetenz und vor allem eine fehlerfreundlichere Grundhaltung.
Welche Rahmenbedingungen ergeben sich daraus für die Schule?
Die Forderungen und Erwartungen einer Gesellschaft an die Schule sind so vielfältig wie die Menge der Teile, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt. Dem kann keine Schule genügen. Darum muss eine sinnvolle didaktische Reduktion gefunden werden. Die Rahmenbedingungen für die Schule werden dennoch nicht nur am Fachunterricht orientiert sein, sondern müssen sich weiteren gesellschaftlichen Anforderungen stellen mit der dafür notwendigen Zeit, der Muße und vor allem dem dafür notwendigen Raum (der auch in einer Schule wie dieser nicht ausreicht, die auf den ersten Blick in einem zufriedenstellenden baulichen Zustand ist)!
Welche Rolle spielen Schulleiterinnen und Schulleiter?
Sie haben eine Schlüsselrolle bei der Verbesserung der Qualität schulischer Arbeit. Ich mache mir allerdings keine Illusion darüber, dass mehr Schulzufriedenheit und damit einhergehend mehr Qualität allein durch Schulmanagement zu finden sind. Es ist unübersehbar, dass jede einzelne Schule ein hohes Maß an Gestaltungspotential besitzt, um Stressfaktoren innerhalb des Kollegiums abzubauen und damit Kräfte und Energie freisetzen kann für Schulentwicklung und Qualitätsverbesserung. Dabei muss die Führungskraft den Anspruch nach pädagogischer Freiheit und schulischer Gesamtverantwortung im Gleichgewicht halten. Führung selbst ist ein beständiger Lernprozess. Schulleiterinnen und Schulleiter müssen Modelle sein für die Anforderungen, die an Lehrerinnen und Lehrer herangetragen werden. Sie müssen darum über folgende funktionsübergreifende Kernkompetenzen verfügen:
- Team- und Dialogfähigkeit
- Entscheidungsfähigkeit
- Innovationsfähigkeit
- Strategische Kompetenz
- Rollenbewusstsein und Belastbarkeit.
Das sind hohe Anforderungen und ich kann nicht verhehlen, dass ich eine große Erleichterung empfinde, diese Verantwortung abgeben zu können in jüngere, und wie wir schon wissen, erfahrene Hände. Es braucht weiterhin viel Kraft und Energie, um die Schule auf diesem Weg voranzubringen, aber auch um gewonnene Erfahrungen zu erhalten, wenn nötig zu überprüfen und in weitere Entwicklungsprozesse einfließen zu lassen.
43 Dienstjahre, wo bin ich eigentlich so lange gewesen? Unterwegs in einem lebendigen Berufsleben mit vielen interessanten Stationen in Naumburg, Korbach, Waldeck, Bad Arolsen, Eschwege und schließlich in Kassel. Referendarin, Lehrbeauftragte, Schulleiterin einer großen Grundschule, Schulaufsichtsbeamtin und schließlich Schulleiterin der Reformschule.
Wo bist du eigentlich so lange gewesen?
Ein Satz, den ich hin und wieder zu Hause vernahm, wenn meine Rückkehr sich wieder einmal länger hingezogen hatte als versprochen und ich erst sehr viel später nach Hause kam als vorhergesagt. Dennoch hast Du mich, Peter, immer und nach all Deinen Kräften in den vergangenen 10 Jahren unterstützt. Insbesondere in den letzten Jahren war ich mehr als nur froh, einen rüstigen „Rentner“ zuhause zu haben, der für mich die Hausarbeit in weiten Teilen erledigte. Dass Du daneben immer auch ein Ohr für mehr oder weniger große Aufregungen hattest und mir ab und zu den Kopf zurechtgerückt hast, hat mir oft genug geholfen, mich selbst nicht im schulischen Alltag zu verlieren. Danke herzlich dafür.
Mich haben die wertschätzenden Worte hier und heute vorgebracht von unterschiedlichen Ebenen aus der Schulgemeinde und um uns herum sehr gefreut. Vielen Dank dafür an Frau Knieling, an die Eltern und die Schülervertreter Marie und Noureddin, an das Schulleitungsteam Petra, Christina und Melanie sowie an Anke und Stefan als Schulpersonalrat!
Ein besonderes Dankeschön geht stellvertretend für alle, die mich in meinem beruflichen Leben wohlwollend oder kritisch begleitet haben an meine Freundinnen Heike Damm-Pestl, Petra Mies und Anne Kettschau, die fast 30 Jahre mit mir gemeinsam in schulischen Zusammenhängen unterwegs sind und heute in ihrem Vortrag meine pädagogische Leidenschaft beleuchtet haben. Ein zusätzliches Dankeschön an meine Freundlich Heike, die mir besonders in den ersten Jahren an der Reformschule ihr Ohr und ihren Rat geschenkt hat, wenn die Situation für mich alleine unlösbar erschien.
Und jetzt lade Sie und Euch Alle herzlich ein, mit mir auf den Beginn eines neuen Lebensabschnittes anzustoßen. Noch ein wenig zu plaudern ein paar „Schmeckewöhlerchen“ zu genießen und es ein wenig schön zu haben getreu dem Motto meiner Lieblingskinderbuchautorin Astrid Lindgren: „Hier sitzen wir du und ich und haben‘s schön!“